Am 26.Oktober 2021 fand im Rahmen einer turnusmäßigen Sitzung eine akademische Feierstunde anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Mühlheimer Stadtverordnetenversammlung statt. Die Redebeiträge und Impressionen können Sie u.s. entdecken:
Sehr geehrte Ehrengäste, Gäste und Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung,
zur Einstimmung spielte uns das Klarinettenensemble des Musikverein Dietesheim 1904 e.V. aus der Symphony No 5 von Ludwig van Beethoven, bekannt als „Die Schicksalssymphonie“.
Als Beethoven dieses Stück schrieb war er körperlich und seelisch schwer angeschlagen, am Boden zerstört, und trotzdem - oder gerade deswegen – hat er ein Werk geschaffen, das bis heute die Menschen aufwühlt, das Weltruhm hat und lebendig geblieben ist.
Ein besserer Beginn für unsere heutige Veranstaltung ist kaum denkbar. Auch 1946 pochte das Schicksal an die Pforte! Europa, Deutschland und auch unser Mühlheim liegen in Scherben. Moralische Werte und städtische Strukturen sind zerstört. Es gab unzählige Tote zu beklagen. Die Menschen sind verzweifelt, an einem Tiefpunkt angelangt.
Trotzdem haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, für einen Neuanfang, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gekämpft und es wurden die Gesetze und Vorschriften formuliert und beschlossen, die bis heute lebendig fortgeschrieben werden, bestehen und unseren politischen Alltag bestimmen.
Aus diesem Anlass feiern wir heute 75 Jahre Stadtverordnetenversammlung! Es ist eine Gelegenheit innezuhalten, das übliche politische Geschehen einmal beiseitezuschieben und sich auf grundsätzliche Werte zu besinnen.
Wenn wir heute eine Feierstunde abhalten, dann betrifft das unsere aktuellen politischen Akteure in Parlament und Magistrat. Aber es betrifft auch unzählige Menschen, die sich vor uns, schon vor 1946 und seit 1946 in den jeweils gewählten Parlamenten, in den verschiedene Parteien, als Bürgermeister*innen, Stadträt*innen, in der Verwaltung, in anderen politischen Gremien, wie dem Ausländerbeirat und dem Jugendforum oder einfach als Bürger*innen engagiert haben. Kurz: es betrifft alle Menschen in unserer Stadt, die sich für unser Mühlheim und eine bessere und gerechtere Welt einsetzen und eingesetzt haben.
Die heutigen Rechte und Pflichten der politischen Organe sind hart erkämpft und bringen den Willen all dieser Menschen zu Ausdruck.
Wer könnte dies besser beleuchten als unser erster Redner, Herr Dr. Roman Poseck. Er ist seit 2012 Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt und seit 2017 zugleich Präsident des Staatsgerichtshofes, des Verfassungsgerichts von Hessen. Die taz hat einmal geschrieben, dass ihm ein gutes Gefühl sowohl für die Belange der Justiz als auch der Politik nachgesagt wird. Auf jeden Fall ist er den Umgang mit streitenden Parteien und widerstreitenden Interessen gewohnt.
Den danach folgenden Redner brauche ich nicht vorzustellen.
Herr Karl-Christian Schelze, von 1992 bis 1999 Bürgermeister dieser Stadt, anschließend bis 2020 Geschäftsführer des Hessischen Städte- und Gemeindebundes und damit „Bürgermeister vieler Städte“. Von 2001 bis 2003 war er Stadtverordneter in Mühlheim.
Er hat viel bewegt in unserer Stadt, sich für die Belange der Menschen eingesetzt, auch und gerade für die, die am Rande der Gesellschaft stehen. In 2021 hat er den Hessischen Verdienstorden auf Vorschlag von Menschen aus unserer Stadt überreicht bekommen.
Er wird uns die Sicht auf 75 Jahre Stadtparlament als Mitwirkender schildern.
Und ganz besonders freue ich mich auf unsere letzte Rednerin.
Im Vorfeld dieser Veranstaltung habe ich mit vielen Menschen über das Thema des heutigen Abends gesprochen und darüber, welche Beiträge dazu passen könnten. Dabei ist die Idee entstanden, auch eine Person zu Wort kommen zu lassen, die das lokalpolitische Geschehen eher aus der Zuschauerperspektive beobachtet, die selbst nicht parteipolitisch aktiv ist. Eine Person, die mutig ist und sich traut, hier vor uns allen ans Podium zu gehen und ihr Erleben zu schildern, die sich in die Höhle der Löwen traut.
Ich möchte Frau Angela Ochel-Czyszkowski ganz herzlichen begrüßen. Die Alteingesessenen mögen sagen, dass sie ja erst seit 17 Jahren in Mühlheim lebt. Sie selbst sagt selbstbewusst: „ich lebe seit 17 Jahren in Mühlheim und bin Mühlheimerin!“
Sie ist Freie Schriftstellerin, schreibt Romane und Geschichten über das Leben mit allen Verwirrungen und Höhen und Tiefen und hat zusammen mit dem sicher bekannten Dr. Peter Mayer das Buch gestaltet: Mühlheim am Main – Mit offenen Augen entdecken.
Ich wünsche uns allen im Folgenden besinnliche Momente und viel Vergnügen beim Zuhören.
Sehr geehrte Frau Monat, sehr geehrte Damen und Herren Stadtverordnete, meine sehr geehrten Damen und Herren,
zunächst danke ich Ihnen ganz herzlich für die Einladung in Ihre Mitte. Ich freue mich jedenfalls sehr heute eine Festansprache aus Anlass des Jubiläums Ihrer Stadtverordnetenversammlung halten zu dürfen.
Ich stehe hier vor allem als Präsident des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen. Als Verfassungsgericht sind wir auch Hüter der kommunalen Selbstverwaltung, die in Artikel 137 der Hessischen Verfassung verankert ist.
Immer wieder beschäftigen wir uns mit kommunalen Grundrechtsfragen, auch zurzeit liegen einige bei unserem Gericht. Wenn ich richtig informiert bin, ist die Stadt Mühlheim am Main noch nicht als Klägerin bei uns in Erscheinung getreten. Bei Bedarf stehen wir Ihnen auch zur Verfügung, ohne dass ich Ihnen natürlich ein bestimmtes Ergebnis voraussagen kann.
Heute soll aber ein besonderer Anlass im Mittelpunkt stehen. 75 Jahre Stadtverordnetenversammlung Mühlheim am Main. Das ist durchaus ein Anlass innezuhalten, die Geschichte Revue passieren zu lassen und ein paar grundlegende Anmerkungen zur Situation unserer Demokratie zu machen.
Zunächst aber erfüllt mich vor allem Dankbarkeit dafür, dass sich unzählige Menschen bei uns in Hessen in den vergangenen 75 Jahren, hier in der Stadtverordnetenversammlung Mühlheim am Main, aber natürlich auch in vielen anderen Kommunen, mit ganzer Kraft für das Wohl ihrer Kommune, für das Gemeinwesen und für die Menschen eingesetzt haben und dabei vor allem unheimlich viel Freizeit aufgewandt haben.
Im Kleinklein des Alltags kommt die Würdigung der Leistungen der Menschen oft zu kurz und ich will sie deshalb ganz bewusst an den Anfang stellen und Ihnen stellvertretend auch für alle Mitglieder, die dieser Stadtverordnetenversammlung in den vergangenen 75 Jahren angehört haben, meinen Dank und meine Anerkennung persönlich aussprechen.
Sie sind mit dieser Feierstunde in sehr guter Gesellschaft. Auch das Land Hessen blickt in diesen Wochen auf seine Gründung vor 75 Jahren mit zahlreichen Festveranstaltungen zurück.
Die hessische Verfassung, die älteste in Deutschland, ist am 1. Dezember 1946 in Kraft getreten. Die zurückliegenden 75 Jahre sind im Vergleich zu anderen Zeitepochen unseres Landes ein Glücksfall gewesen, für die Kommunen, das Bundesland Hessen und die Bundesrepublik Deutschland.
Sie sind geprägt durch eine stabile Demokratie, einen funktionierenden Rechtsstaat, Frieden sowie soziale und wirtschaftliche Erfolge. Nach den Verbrechen der Nationalsozialisten und dem vollständigen Zusammenbruch unseres Landes konnte ein wirklicher Neuanfang gestaltet werden. Dieses Land genießt gerade auch wegen seiner Leistungen in den vergangenen 75 Jahren international inzwischen hohes Ansehen. Zu der guten Entwicklung haben die Rahmenbedingungen gerade auch im Grundgesetz und in der hessischen Verfassung maßgeblich beigetragen. Mindestens genauso wichtig sind aber die Menschen gewesen, die sich persönlich für die Demokratie und das Gemeinwohl eingesetzt haben.
Und an dieser Stelle haben die Abgeordneten in den Kommunalparlamenten in den 75 Jahren eine ganz wichtige Rolle eingenommen und diese vor allem im Sinne unserer Demokratie erfolgreich ausgefüllt. Sie haben Demokratie von Anfang an und von unten gestaltet und damit die Basis, und zwar auch schon vor der Existenz des deutschen Bundestages, für die demokratische Entwicklung in unserem Land gelegt. Sie sind besonders nah dran an den Menschen und ihren alltäglichen Problemen. Sie sorgen dafür, dass Demokratie vor Ort lebendig und erfahrbar ist. Sie sind für die Menschen ansprechbar. Mit Ihrer Bürgernähe stärken Sie Akzeptanz und Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Sie gestalten Heimat und bieten den Menschen damit die Möglichkeit zur Identifikation mit ihrer Heimat. Sie handeln nicht aus wirtschaftlichem Interesse, sondern Sie bringen Ihr Wissen, Ihre Erfahrung und Ihre Persönlichkeit ehrenamtlich ein. Als Stadtverordnete sind Sie damit auch ein Vorbild für viele Menschen und für die Demokratie insgesamt.
Das Fundament unseres Staates sind die Kommunen. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich manchmal zu stark auf die größeren Ebenen in Wiesbaden, in Berlin oder auch in Brüssel. Möglicherweise ist Politik da interessanter, vielleicht gelegentlich eher ein Schauspiel, sie ist jedenfalls medial sehr wirksam.
Aber gerade die Kommunen vor Ort treffen viele wichtige Entscheidungen und dabei handeln sie in kommunaler Selbstverwaltung und sie berühren das Leben der Menschen damit viel unmittelbarer. Das haben wir gerade auch in der Debatte über die Fahrradwege gesehen.
Ich hatte auf die verfassungsrechtliche Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung in Hessen in Artikel 137 unserer Landesverfassung bereits hingewiesen. Der Staatsgerichtshof, also das Verfassungsgericht des Landes, hat hierzu in seiner Entscheidung aus dem Jahre 2013 Folgendes näher ausgeführt.
„Nach Artikel 137 Absatz 1 der Hessischen Verfassung sind die Gemeinden in ihren Gebieten unter eigener Verantwortung die ausschließlichen Träger der gesamten öffentlichen Verwaltung. Sie können jede öffentliche Aufgabe übernehmen, soweit diese nicht durch ausdrückliche gesetzliche Vorschriften anderen Stellen im dringenden öffentlichen Interesse ausschließlich zugewiesen sind.“
Das so umschriebene Selbstverwaltungsrecht wird den Gemeinden in Artikel 137 der hessischen Verfassung ausdrücklich gewährleistetet. Die Selbstverwaltungsgarantie sichert den Gemeinden die Allzuständigkeit für die Wahrnehmung aller öffentlichen Angelegenheiten in ihrem Gemeindegebiet sowie die Befugnis zur eigenverantwortlichen Führung der Geschäfte in diesem Bereich.
Im Folgenden dieser Entscheidung hat der Staatsgerichtshof dann im Übrigen eine angemessene Finanzausstattung der Gemeinden angemahnt, damit die den gerade beschriebenen Aufgaben auch tatsächlich nachkommen können.
Auch das Grundgesetz garantiert in Artikel 28 die kommunale Selbstverwaltung. Die starke Stellung der Kommunen in unserem Staatsgefüge ist dabei kein Selbstzweck, sondern die Folge einer klaren inhaltlichen Vorstellung, wie unser Staat aufgebaut und organisiert sein soll. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Aufteilung von Macht und Verantwortung, zur Dezentralisierung und damit zur Verhinderung eines unkontrollierten Machtzentrums.
Die Idee der kommunalen Selbstverwaltung und des in ihr auch verkörperten bürgerschaftlichen Engagements in verschiedenen Gremien ist übrigens wesentlich älter als 75 Jahre. Die geschichtlichen Grundlagen reichen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Dabei stand von Anfang an das Ziel im Mittelpunkt, die Bürger für den Staat zu engagieren und sie in den Staat zu integrieren. Daraus haben sich auch früh demokratische Strukturen entwickelt, die 1919 in die Weimarer Republik und 1949 in die Bundesrepublik Deutschland als örtliche und regionale Basis des demokratischen Staates übernommen und weiterentwickelt werden konnten.
Die Wurzeln unserer Demokratie liegen also in den Kommunen. Und auch das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung und der kommunalen Parlamente immer wieder herausgehoben. Ich zitiere aus einer recht alten Entscheidung aus dem Jahr 1960:
„Demgegenüber sind das kommunale Verfassungsrecht und die Wirklichkeit seit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes unter Anknüpfung an die Tradition der Weimarer Zeit von der Tendenz geprägt, den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Gemeindebürger vor allem durch eine Erweiterung der Zuständigkeiten der Kommunalvertretungen wieder in stärkerem Maße zur Geltung zu verhelfen.“
Weiter heißt es in der Entscheidung:
„Kommunale Selbstverwaltung, wie sie heute verstanden wird, bedeutet in ihrem Wesen und in ihrer Intention nach, Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten, die die in ihrer örtlichen Gemeinschaft lebendigen Kräfte des Volkes zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben der engeren Heimat zusammenschließt mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren.“
Die örtliche Gemeinschaft soll nach dem Leitbild des Artikels 28 des Grundgesetzes ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und in eigener Verantwortung solidarisch gestalten.
Das in unserer Verfassung immanente demokratische Prinzip bedeutet auch, dass alle Arten der Ausübung von Staatsgewalt, auch auf kommunaler Ebene, eine demokratische Legitimation brauchen. Auch vor Ort geht die Staatsgewalt vom Volke aus, sie wird vom Volk vor allem in Wahlen und Abstimmungen zur Geltung gebracht.
Das schafft Ihnen auch Ihre Legitimation für Ihre Tätigkeit als Stadtverordnete. Die von den Menschen unmittelbar gewählten Kommunalparlamente sichern also das Demokratieprinzip vor Ort oder anders gesagt für unsere Demokratie sind Sie unverzichtbar.
Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder Besonderheiten der Kommunalparlamente anerkannt, beispielsweise bei der Abschaffung der 5%-Klausel, aber auch bei der besonderen Bedeutung von Wählergemeinschaften. Ich will nochmal aus der Entscheidung aus dem Jahre 1960 zitieren:
„Es muss also ebenso wie zur Zeit der Weimarer Republik auch ortsgebundenen, lediglich kommunale Interessen verfolgenden Wählergruppen das Wahlvorschlagsrecht und deren Kandidaten eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet sein.“
Das ist eine kommunale Besonderheit, die – soweit ich informiert bin und wenn ich hier in Ihren Kreis blicke – auch in der Stadtverordnetenversammlung hier in Mühlheim eine große Tradition hat.
In den vergangenen 75 Jahren des kommunalen Parlamentarismus ist viel geschehen. Die Themen haben sich grundlegend verändert; sie sind heute andere als damals. Die Grundlagen, die Strukturen und die rechtlichen Rahmenbedingungen sind dabei allerdings im Wesentlichen die gleichen geblieben.
Die Zusammensetzung der Parlamente ist heute eine grundlegend andere geworden. Ich bin sicher, dass es vor 75 Jahren undenkbar gewesen wäre, dass es ein weibliches Präsidium im Rahmen einer Stadtverordnetenversammlung gibt. Auch das ist eine Entwicklung, die in den letzten 75 Jahren zum Glück eine gute gewesen ist. Auch wenn es in Sachen Gleichberechtigung an der einen oder anderen Stelle durchaus noch etwas zu tun gibt, blicken wir auf eine dynamische Entwicklung, die so vor 75 Jahren nicht absehbar war. Auch der Deutsche Bundestag hat heute zum dritten Mal in seiner Geschichte eine Bundestagspräsidentin gewählt.
Wir können also auf die vergangenen 75 Jahre gemeinsam zufrieden zurückblicken. Ich glaube, sie waren eine Erfolgsgeschichte. Das ändert aber nichts daran, dass der Blick auf Gegenwart und Zukunft bei vielen und auch bei mir durchaus mit Sorgen verbunden ist.
Die Erfolgsgeschichte der vergangenen 75 Jahre kann uns Selbstbewusstsein und Zuversicht für aktuelle und zukünftige Herausforderungen geben. Aber es wird kein Selbstläufer werden, dass Zukunft gelingt. Und das gilt sowohl für die inhaltliche Gestaltung der Zukunft als auch für die Sicherung unserer Demokratie, und zwar sowohl auf kommunaler als auch auf anderer Ebene.
Wir wissen, dass die inhaltlichen Herausforderungen, vor denen alle Ebenen unseres Staates stehen, gewaltig sind und sie liegen teilweise auch nicht in unserer Hand. Die großen Themen dieser Zeit, der Klimawandel, die Digitalisierung, die demographische Entwicklung und die Migration, werden nur mit erheblichen Kraftanstrengungen auf allen staatlichen Ebenen eine gute Entwicklung nehmen. Sie werden auch die demokratischen Strukturen besonders herausfordern, vom Kommunalparlament bis zum Deutschen Bundestag. Eine Garantie für ein sicheres und gutes „Weiter so“ gibt es nicht. Viele Menschen sind verunsichert. Die Welt und auch das Wahlverhalten der Menschen scheinen schnelllebiger denn je oder, wie es heute so oft heißt, sehr volatil.
Als vor gut 30 Jahren der Eiserne Vorhang fiel, schien die Ausweitung der Demokratie eine Selbstverständlichkeit zu sein. Ein Trugschluss, wie wir heute wissen. Die Strahlkraft der Demokratie hat international eher nachgelassen. Wir befinden uns in einem Wettbewerb unterschiedlicher Systeme. Ein Ausruhen auf dem Erreichten wäre daher fehl am Platz. Mehr denn je geht es darum, dass wir unsere Werte vertreten und - soweit erforderlich - auch verteidigen. Dabei sind die Gefährdungen für die Demokratie komplex, und sie betreffen alle Ebenen von kommunalen Parlamenten bis hin zum Bundestag.
Ich möchte ein paar Punkte beispielhaft für die aktuellen Gefährdungspotentiale herausstellen:
Demokratie lebt von Gestaltung und Spielräumen. Nur so können Menschen auch motiviert werden, sich demokratisch zu engagieren. Aber die Gestaltungsspielräume, und ich denke, das erleben Sie auch in Ihrer alltäglichen Arbeit, sind doch oft sehr gering. Gerade die Kommunen und ihre Parlamente müssen viele Probleme vor Ort lösen, die sie aber nicht wirklich in ihrer Grundstruktur beeinflussen können.
Weiterhin beruht Demokratie darauf, dass Verantwortung nachvollziehbar ist. Das wollen ja auch Menschen bei ihren Wahlentscheidungen zugrunde legen. Allein das schwierige Verantwortungsgeflecht zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist aber für die Wählerinnen und Wähler nur sehr schwer durchschaubar.
Die politische Mitte ist unter Druck geraten, das Erstarken der Ränder hat Politik und Gesellschaft auch bei uns polarisiert. Fast jedes aktuelle Thema hat ein großes Polarisierungspotential, was wir aktuell auch im Umgang mit der Corona-Pandemie erleben. Eine besondere Bedrohung sind überdies die fließenden Übergänge vom Rechtspopulismus zum Rechtsextremismus bis hin zum Rechtsterrorismus.
Der Stil der Auseinandersetzung hat sich geändert, die Tonlage ist eine andere geworden. Das ist in den Debatten in den Parlamenten, aber auch im Netz deutlich spürbar. Auch der Populismus bringt die Demokratie in Bedrängnis. Er bedient sich immer gleicher Verhaltensmuster und geht von einem reinen homogenen Volk aus, dem stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen. Daraus leitet die populistische Ideologie einen Alleinvertretungsanspruch ab. Populisten nehmen für sich in Anspruch als Einzige den einen wahren Willen des Volkes erkannt zu haben und deshalb auch als Einzige wirklich berechtigt zu sein, für das Volk insgesamt zu sprechen. Dieser Ansatz ist ein klarer Widerspruch zur Demokratie. Hier wird Einheit vorgespielt, wo in Wirklichkeit Vielfalt das Leben prägt. Oder, um es mit den Worten von Jürgen Habermann zu sagen: „Das Volk des Grundgesetzes pflegt im Plural aufzutreten.“
Die Liste problematischer Entwicklungen ließe sich beliebig fortsetzen, und es kommen auch immer wieder neue hinzu. Vielleicht auch solche, die wir heute noch gar nicht voraussehen können.
Dennoch, ich will es noch einmal betonen: Wir leben nach 75 Jahren in einer starken und in einer funktionierenden Demokratie. Das zeigt Ihre alltägliche Arbeit in den Kommunalparlamenten auf ganz klarer demokratischer Grundlage ganz besonders. Aber auch die Bundestagswahl vor einem Monat und die heutige Konstituierung des neuen Deutschen Bundestages sind dafür eindeutige Belege. Gleichwohl bleibt Wachsamkeit das Gebot der Stunde, und es ist nie zu früh, sich der Sicherungsmechanismen unserer Demokratie zu vergegenwärtigen und diese zu stärken.
Und an dieser Stelle, bitte sehen Sie mir das als Richter nach, will ich vor allem auch den Fokus auf die Rechtsstaatlichkeit lenken. Demokratie und Rechtsstaat sind zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören nicht zwingend zusammen, aber eine Demokratie ohne einen Rechtsstaat oder ein Rechtsstaat ohne Demokratie sind schwer vorstellbar und in jedem Fall unvollständig.
Die Demokratie sichert die Selbstbestimmung des Volkes, indem sie die Bildung, die Legitimation und Kontrolle der Organe organisiert, die staatliche Herrschaftsgewalt ausüben. Die Demokratie schützt aber nicht vor einer Tyrannei der Mehrheit. Hierfür braucht es den Rechtsstaat.
Er bindet die Staatsgewalt an Recht und Gesetz, er gewährleistet die Gewaltenteilung und den Individualrechtsschutz durch unabhängige Gerichte. Ein funktionsfähiger Rechtsstaat ist damit die beste Absicherung gegen den Weg in eine illiberale Demokratie. Ein Rechtsstaat der handlungsfähig ist, stärkt das Vertrauen in das gesamte System und setzt dem Böswilligen Grenzen. Ich glaube an dieser Stelle haben wir ebenfalls gute Ausgangsbedingungen und damit auch einen starken Sicherungsmechanismus für unsere Demokratie.
Das liegt zum einen daran, dass wir mit dem Grundgesetz und der Hessischen Verfassung auch nach mehr als 70 Jahren ein festes und erfolgreiches Fundament unseres Rechtsstaats haben. Viele Artikel sind heute aktueller denn je. Das gilt z.B. für das Menschenwürdeversprechen des Grundgesetzes, das rechtlich jeder Form von Rassismus und Ausgrenzung einen Riegel vorschiebt. Aber auch die so simple Freiheits- und Gleichheitsgarantie unserer Verfassung ist eine wichtige Grundlage zur Verhinderung von Diskriminierung. Nicht ohne Grund hat sich die Ehe für alle aus dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt. Unter dem Dach des Grundgesetzes sind unterschiedliche Lebensentwürfe abgesichert und zwar nicht nur die, die den Regierenden gerade passen.
Es wird Sie wahrscheinlich nicht verwundern, dass ich an dieser Stelle auch eine Lanze für die Justiz breche. Die Justiz sichert den Rechtsstaat und setzt ihn, wo es notwendig ist, auch durch. Das Bundesverfassungsgericht ist etwas jünger als diese Stadtverordnetenversammlung, es hat vor kurzem seinen 70. Geburtstag gefeiert. Es hat sich in dieser Zeit einen auch international sehr beachtlichen Ruf als eines der wirkmächtigsten Verfassungsgerichte erarbeitet. Es hat Recht und Gesellschaft auch immer wieder weiterentwickelt. Zuletzt beispielsweise auch in einer Entscheidung zum Klimaschutz. Aber auch die örtlichen Gerichtsbarkeiten stehen aus meiner Sicht für einen funktionierenden Rechtsstaat, was auch in der Corona-Krise deutlich geworden ist, als Gerichte genauso wenig wie die Parlamente in den Lockdown treten konnten, weil sie systemrelevant sind.
Und auch die Aufarbeitung der Corona-Krise durch den Rechtsstaat läuft auf Hochtouren. Wir werden morgen im hessischen Staatsgerichtshof beispielsweise unsere Entscheidung zum Sondervermögen, das in Hessen zur finanziellen Bewältigung der Krise eingerichtet wurde, verkünden.
Insgesamt werden wir aber noch mehr brauchen, damit wir unsere Demokratie in den Kommunen und auf anderen Ebenen in eine erfolgreiche Zukunft führen können.
Ich will in diesem Kontext zum Schluss noch ein paar wenige Aspekte dazu benennen:
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir die Vorzüge unserer Demokratie immer wieder herausstellen und gerade da sind alle Ebenen gefragt. Da geht es auch um Bildung, natürlich in den Schulen, da geht es aber auch um die Außendarstellung der Parlamente und mir wäre es natürlich auch deutlich lieber, und ich denke, das teilen Sie genau so, wenn man Menschen motivieren könnte, durch Werbung für die Demokratie mit einer stärkeren Wahlbeteiligung an den demokratischen Abläufen teilzunehmen. Eine Wahlbeteiligung von ungefähr 50% bei Kommunalwahlen kann uns gemeinsam nicht zufriedenstellen.
Weiterhin muss es darum gehen, eine Überforderung der Demokratie zu verhindern. Die Demokratie und die Parlamente können nicht jedes Problem wegzaubern, deshalb ist es vielleicht von Seiten der Politik auch manchmal notwendig, die Grenzen eigener Möglichkeiten zu benennen.
Ich halte es für wichtig, dass Kompromisse anerkannt werden, denn Kompromissbereitschaft ist für die Demokratie konstitutiv. Das gilt erst recht bei differenzierten Wahlergebnissen, wie wir sie hier in diesem Parlament, aber auch im Deutschen Bundestag sehen. Möglicherweise kann die Erfahrung der Kommunalparlamente mit solchen Wahlergebnissen auch für die Politik auf Landes- und Bundesebene noch einige Impulse setzen.
Außerdem kommt es darauf an, dass wir die Gesellschaft zusammenhalten und dass wir die Mitte stärken. Das ist eindeutig auch eine soziale Aufgabe.
Wir brauchen aber vor allem auch weiter bei allem Dissens, den es geben mag, den Konsens der demokratischen Parteien über wesentliche Fragen unseres Zusammenlebens. Wir müssen den Respekt vor Institutionen und Menschen stärken. Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, wenn diejenigen, die sich politisch engagieren, gerade auch auf kommunaler Ebene, immer häufiger Anfeindungen ausgesetzt sind. Es ist ein schmaler Grat von der Verrohung der Debatte und Sprache bis zur Anwendung körperlicher Gewalt. Hier müssen wir gegensteuern.
Genauso wichtig ist es aus meiner Sicht, Grenzen zu ziehen. Die Demokratie lebt von einer großen Spannbreite unterschiedlicher Richtungen und Meinungen. Das verdient Respekt. Aber genauso ist auch klar zu benennen, wer mit seinen Ansichten und Verhaltensweisen außerhalb des verfassungsrechtlichen Grundkonsenses und des demokratischen Spektrums steht.
Schließlich halte ich es für elementar, dass auch die Medien als Stützfeiler der Demokratie gestärkt werden. Gerade die Medien sind Angriffsobjekte der Systemverächter, wir hören immer wieder laute Beschimpfungen als Lügenpresse, manchmal gibt es auch tätliche Übergriffe. Hinzu kommt, dass wir eine völlig veränderte Informationslandschaft haben. Für die Zukunft der Demokratie und das gilt auch für die Zukunft vor Ort halte ich es für sehr wichtig, dass wir guten Journalismus vor Ort und überregional haben, weil sich nur dadurch am Ende verhindern lässt, dass uns die verrückte Welt auch noch irre macht.
Ich komme zum Schluss: Hoffentlich habe ich mit diesen nachdenklichen Anmerkungen die heutige Feierstimmung nicht zu sehr getrübt. Aber 75 Jahre sind eben auch eine Gelegenheit für grundsätzliche Erwägungen.
Die starke demokratische Basis in unserem Land - gerade auch in den Kommunalparlamenten - ist und bleibt aber Anlass für Optimismus. Es hat in der Geschichte immer wieder Wellenbewegungen gegeben und jede Zeit hatte ihre spezifischen Probleme.
Trotz aller aktuellen Probleme bin ich fest davon überzeugt, dass wir im Moment mit die besten Ausgangsvoraussetzungen aller Zeiten für die Gestaltung von Zukunft haben. Wir haben in jedem Fall ein sehr gutes Fundament für die kommenden Herausforderungen und dank des Einsatzes vieler Menschen in der Kommunalpolitik eine lebendige und starke Demokratie.
Ich wünsche Ihnen in dieser Stadtverordnetenversammlung eine gute Zukunft als Ort des demokratischen Miteinanders und des demokratischen Wettstreits. So wird es auch der Stadt Mühlheim am Main weiter gut gehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Parlamentarierinnen und Parlamentarier,
sehr geehrte Frau Vorsteherin,
es mag sich nicht so anfühlen, aber es ist Zeit zu feiern.
1946 begann in Westdeutschland der Weg in die beste Demokratie, die wir je hatten. Auch wenn wir noch längst nicht am Ziel sind dieses Weges, so dürfen wir heute und hier 75 Jahre Stadtverordnetenversammlung feiern - die Demokratie, das Parlament und die Freiheit des Menschen.
Der Mensch braucht für eine Demokratie zwei Dinge: Verstand und Sprache.
Sprechen ist viel mehr als syntaktischer Krach. Es ist die Fähigkeit einen Gedanken in eine ganz bestimmte Auswahl an Worte zu stecken, dann richtig zu betonen, und am besten macht er noch ein freundliches Gesicht oder eine ernste Miene, dann kommt es hoffentlich richtig an.
In Wahrheit ist das Sprechvermögen das, was uns vom Tier trennt. Jeder, der ein Haustier hat, ein Hund vor allem, wird wissen: Das Herz ist es nicht, was uns Menschen zur Krone dessen macht, was wir selbst übrig gelassen haben von der Schöpfung. Nein, es ist das Sprechen ebenso das Zuhören, das Formulieren von Gedanken, Wünschen und natürlich von Visionen. Ja, Visionen, auch wenn wir uns deswegen in Behandlung geben sollten, wie uns damals Helmut Schmidt so launisch riet.
Sprechen - Aussprechen lassen – Zuhören. Alles zusammenführen, priorisieren. Schutz der Minderheiten, Gewichtung nach dem, was vielen nützt.
Und dann eine Lösung finden.
Schwierig.
Und oft laut.
Demokratie ist unendlich kostbar! So elementar für ein gutes Leben wie Essen und Trinken. Demokratie ist vor allem für den Schwächsten ÜBERLEBENSWICHTIG.
Das Unterhaltsamste zum Thema Demokratie lieferte übrigens einst Winston Churchill, als er meinte: Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen.
Ich mag diese gekonnte Zuspitzung der Formulierung. Das Negative zuerst und dann die Auflösung zum Guten.
Daher bin ich dankbar, dass es Sie gibt. Sie, die hier sitzen. Im Stadtparlament. In einem Gebilde, das das viele Sprechen im Namen trägt.
Ihr seid unser Sprachlabor, unsere Stadtverordnetenversammlung, unser Parlament. Ihr seid Ausdruck dieser Errungenschaft. Der Beweis, dass wirklich alle anderen Regierungsformen schlechter sind. Zumindest, wenn hier alle Hausaufgaben gemacht wurden.
Als ich eingeladen wurde, ein paar Worte an Sie zu richten, habe ich mir die irre Mühe gemacht, dieses Wort nachzuschlagen
PAR-LA-MENT.
Ein Begriff aus dem Französischen. Parlieren. Es ist der Ort des Sprechens.
Und nun die schlechte Nachricht.
Demokratie wurde nicht nur erfunden durchs Sprechen. Sie lebt auch vom Sprechen!
Immer weiter reden miteinander. Das hört nie auf!
Es gibt kein: Bis hierhin und nicht weiter.
Nein, weiter sprechen, nachfragen, kritisieren, auf bereits Besprochenes verweisen.
Das Parlament kontrolliert die Regierenden. Ja, da wird es sicher laut beim Sprechen.
Ich kann das NICHT! Nein, ich nicht, dieses mit allen reden. Mit jedem und zu jedem Thema. Wenn ich anfange zu diskutieren und an den Punkt komme, an dem der andere mir nicht mehr klar machen kann, was er da tut und warum er das tut, dann hört das Verständnis auf. Wenn ich jemand nicht verstehe, wenn ich meine, da geht was falsch … glauben Sie mir, Sie wollen es nicht erleben.
… und ganz ehrlich, was ich in dieser Pandemie erlebt habe! Das dumme Zeug, was ich mir anhören musste, wegen bloß nicht Impfen lassen und man sollte mir die Kinder wegnehmen, weil ich mit denen zum Impfen ging… Danke, es gibt Menschen, mit denen kann ich NICHT reden. Nie mehr, danke. Aus, Fertig.
Aber Sie hier, Sie sagen: Ich mach das, das ist meine Aufgabe, ich rede und ich suche Lösungen... zumindest aber hör ich mir das an.
Respekt! Deswegen sollten Sie aber nicht jeden gesprochenen oder geschriebenen Blödsinn gleich ernst nehmen, bitte!
Eure Aufgabe am Ort des Sprechens, im Parlament ist nicht zu plappern. Ihr habt auch die Aufgabe, das Besprochene zu kontrollieren.
Kontrolle ist wichtig in einer Demokratie!
Jetzt schreien schon wieder die Diagonalgelegenen los und rufen: Kontrolle ist keine Demokratie!
Falsch.
Kontrolle und besonders jene, die die Regierenden überprüft und begleitet, ist das Entscheidende in unserer Staatsform - auf jeder Ebene.
Mag ja sein, dass Vertrauen sehr nett ist, ja, aber jeder weiß, Kontrolle ist nun mal um einiges netter.
Nicht jede Kontrolle ist richtig, mag sein, aber keine Kontrolle ist völlig falsch.
Ich weiß, wovon ich rede, hab es selbst auf unangenehme Art lernen müssen. Ich habe mich in einem Ehrenamt versucht hier im schönen Mühlheim. Und dort war keine Kontrolle, da war alles außer Kontrolle, niemand der Grenzen setzte. Wo keine Kontrolle ist, wird es schnell zur Selbstbedienung. Verloren haben dann wieder die Schwachen oder die, die nicht mitreden dürfen. So auch dort.
Und da ich niemand fand, an den ich wenden konnte, blieb mir nur eins: Aufhören zu sprechen und Gehen.
Bitte lassen Sie es nie so weit kommen in unserem schönen Mühlheim!
Beim Entwurf meiner Worte hier, fragte ich einen Freund, was er denn wohl sagen würde zu einem Parlament.
Parlament? Oh, ja, das kenne ich, das ist toll, sieht gigantisch aus, mit Türmen und so, mit Fenstern und so richtig groß, das steht in London, da an diesem Fluss, tolle Lage, ich hab ein Foto gemacht. Großartig. Aber jetzt mit Brexit komme ich da nicht mehr so schnell wieder hin, die haben ja kein Benzin.
Er meinte das Gebäude (Houses of Parliaments) und nicht die unsere Institution.
Nun, ich will ehrlich sein:
Neugotik ist nicht so mein Ding, da bin ich ehrlich, aber der Bürger der Vergangenheit hatte sichtbar eine Neigung dahingehend, seinen besten Ideen architektonisch und baulich Nachdruck zu verleihen und etwas Großes, nicht zu Übersehendes ins Stadtbild zu klatschen.
Parlament, das Hohe Haus.
Die Parlamentarische Demokratie ist in der Tat ein ausgeklügeltes Konstrukt. Hatte so seine Bauabschnitte benötigt, bis man das richtige Fundament und die richtigen Ziegel fand, das richtige System, um es aufzubauen und dann zu nutzen.
Gebäude haben Wände und ein Dach. Die Wände geben Schutz und setzen gleichermaßen Grenzen. Und dann die Krönung, das Dach, das hat den Überblick, schaut drauf, hält die Wände zusammen! Das Dach sollte bitte dicht sein, sonst stehen alle im Regen.
Je mehr ich mich mit dem Vergleich des Gebäudes anfreundete, desto passender fand ich es:
Wände haben unterschiedliche Ziegel und die haben je nach Brenngrad auch unterschiedliche Farben.
Und uns, also den Bürgern, ist es nach den Wahlen liebevoll gesagt, einerlei, wie die Wände aussehen, sie sollten bitte schön nur halten, das Dach mit dem Überblick, mit der Kontrolle, halten und nicht umfallen, denn dann ist sie hin, die Demokratie, die wir gewohnt sind.
Und ja, ab und zu sind zwei Ziegel kaputt und haben einen amtlichen Sprung, das müssen die Wände ausgleichen, denn wir, die Bürger, sind darauf angewiesen, dass Sie Ihre Aufgabe richtig machen!
Bitte ertragen Sie es mit Gelassenheit, wenn Ihnen jemand entgegentritt und meckert, wenn Ihnen jemand vorwirft, dass dies hier keine Demokratie ist.
Wäre es keine, würde er diese Vorwürfe gar nicht erst machen können...
Ich bin sehr froh, hier zu leben. Danke für Ihre Arbeit.
„Zutrauen veredelt den Menschen“. Lassen Sie mich bitte diese Überschrift meines Vortrages, die vielleicht einige von Ihnen ob ihres Sinns nachdenklich gemacht hat – wenn dem so ist, dann war es auch gewollt – erklären.
Es handelt sich um ein Zitat, das Freiherrn vom Stein zugeschrieben wird, tatsächlich aber von seinem Mitarbeiter Johan Gottfried Frey stammt. Vollständig lautet der Satz: „Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen.“
Frey war preußischer Verwaltungsbeamter, unter anderem Polizeidirektor in Königsberg. Er ist der Verfasser des Entwurfes für eine preußische Städteordnung, die von Freiherr vom Stein weitgehend übernommen wurde. Frey war bestrebt, staatliche Bevormundung abzubauen und durch die Ermöglichung der politischen Teilnahme der Bürgerschaft deren Staatsferne entgegenzuwirken.
Es dürfte nicht weit hergeholt sein, wenn wir diesen Hinweis als Credo der kommunalen Selbstverwaltung bezeichnen. Vom Stein hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Menschen vor Ort am besten ihr kommunalen Angelegenheiten zu regeln wissen. Wenn man hierauf vertraut, dann werden die Menschen im Sinne einer sozialen und gemeinschaftlich zu tragenden Verantwortung kultiviert oder eben veredelt.
Es kann nicht meine Absicht sein, im Anschluss an die hervorragenden Ausführungen meines Vorredners ein Co-Referat zu halten. Ich werde mich daher auf wenige Ausführungen zur allgemeinen Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung und zur Situation in Deutschland, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, beschränken und mich bemühen, Ihnen die Zeit des 1945 vor Ort beginnenden demokratischen Neubeginns näher zu bringen. Ich werde Sie gleichsam auf eine Zeitreise mitzunehmen. Hierbei werde ich versuchen, Ihnen anhand der Niederschriften des sogenannten Bürgerausschusses und der späteren Gemeindevertretung die Anfänge der Kommunalen Selbstverwaltung nach dem II. Weltkrieg, vorzugsweise für Mühlheim, exemplarisch näher zu bringen.
Begeben wir uns nun auf die Zeitreise.
Viele von Ihnen haben noch die Bilder vor Augen, die uns in erschreckender Weise zeigen, was die durch Regen anschwellenden Wassermassen im Ahrtal bewirkt haben: Mitgerissene Brücken, eingestürzte Häuser, unpassierbar gewordene Straßen und Eisenbahngleise. Ein Inferno!
Solcher Bilder waren im Deutschland des Jahres 1945 Normalität. Der Krieg hat Städte, Dörfer, Landstriche zur Trümmerfelder und Wüstungen werden lassen. Es herrschten große Wohnungsnot und Hunger und auch unzählige körperlich und psychisch Versehrte kämpften um ihr Überleben.
Zwölf Jahre Hitler-Diktatur hatten ihr Ende gefunden. Der noch in den letzten Kriegswochen propagierte Endsieg schien zu einer apokalyptischen Endzeit geworden zu sein, die kein Raum für Hoffnung ließ. Hat unser Land überhaupt eine Zukunft? Das war eine der vielen Fragen, die sich die Menschen stellten und auf die man kaum eine Antwort wusste.
Aufgrund der sich abzeichnenden Konflikte mit den russischen Alliierten sahen vor allem die Amerikaner die Notwendigkeit, in Deutschland einen strategisch gut platzierten Verbündeten zu gewinnen. Das mag ein wichtiger Grund gewesen sein, Deutschland zu demokratisieren.
Konnte dieses Ziel realistischer Weise überhaupt erreicht werden?
Der Tag der Kapitulation war für Bundespräsident Richard Weizsäcker ein Tag der Befreiung. War das Ende der unbarmherzigen Diktatur für die Deutschen tatsächlich Anlass für ein Aufatmen?
Nicht für die Mehrheit, die ihre Hoffnung eher auf einen deutschen Endsieg gesetzt hatte, aber für die Insassen der Konzentrationslager, für die in der Zeit des Nationalsozialismus politisch Verfolgten, für ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene war es die langersehnte Wiedergewinnung nicht nur ihrer Freiheit, sondern vor allem auch ihres Menschseins.
Für die meisten anderen galt, sofern es sich nicht um Flüchtlinge und Vertriebene aus Mittel- und Osteuropa handelte: Sie „merkten es gar nicht“, Hitler war „weg“ und „die Besatzung herrschte“, mit einem parlamentarischen Regierungssystem konnten die meisten nichts anfangen, sie waren diesem Regierungssystem nach dem Scheitern der Weimarer Republik entfremdet.
Laut der von den amerikanischen Alliierten verkündeten Proklamation Nr.2 Artikel II blieben bis auf weiteres alle Gesetze in Kraft, sofern sie nicht von der Alliierten außer Kraft gesetzt oder verändert wurden. So konnte Anton Dey bereits rechtskonform im April 1945 zum kommissarischen Bürgermeister eingesetzt werden. In Lämmerspiel war es Alys Beheim.
Die mithin weiter geltende „Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 sah weder eine gewählte Vertretungskörperschaft noch ein gewähltes Verwaltungsorgan vor. Wahlen durch das Volk oder vom Volk gewählter Vertreter gab es nicht mehr.
Die Gemeinderäte waren nicht Inhaber eines Mandats, das ihnen eine politische Partei oder die Wahl der Bürgerschaft verlieh, sondern sie waren ausgewählte Ehrenbeamte der Gemeinde, die der örtliche Beauftragte der NSDAP im Benehmen mit dem Bürgermeister berief. Der Bürgermeister wurde nicht gewählt, sondern aufgrund von Vorschlägen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde ernannt. Die Befugnisse und Stellung des Bürgermeisters folgten dem Führerprinzips.
Im Niederschriftsbuch der Gemeinde Lämmerspiel findet sich als Formular folgender Einleitungssatz, der das Führerprinzip wiedergibt: „Nach Beratung mit den Gemeinderäten fasse ich folgende Entschließung.“ Mit „ich“ war der Bürgermeister gemeint.
Anton Dey rief für den 30. Mai 1945, nur wenige Tage nach der Kapitulation, verschiedene demokratisch gesinnte Einwohner der Stadt zu einer Bürgerausschusssitzung zusammen.
Diese erste Sitzung, die vom kommissarischen Bürgermeister Dey geleitet wurde, begann mit einem Eklat. Ich zitiere aus der Niederschrift:
Nach kurzer Begrüssung des Bürgermeisters Dey an die vollzählig erschienenen Mitglieder gab das Mitglied Jak. Gg. Bernhard eine Erklärung ab. Die darin enthaltene Frage wurde nach der Auffassung desselben vom Bürgermeisterunbefriedigend beantwortet und verließ Bernhard unter Protest gemeinsam mit Peter Spahn u. Anton Spielmann den Sitzungssaal. Da es sich um eine nichtgemeindliche Frage handelte, die auch an sich völlig unwesentlich schien, ist das grundlose Verlassen der Sitzung mit dem Ausscheiden aus dem Bürgerausschuss gleichzustellen.
(Auszug aus dem Protokoll der 1. Sitzung des Bürgerausschusses der Stadt Mühlheim am Main am 30.05.1945, 19.30 Uhr)
Der besonderen Bedeutung wegen habe ich mich entschlossen, die Niederschrift Ihnen wörtlich zur Kenntnis zu geben. Sie ist ein Dokument des Neubeginns der kommunalen Selbstverwaltung in Mühlheim. Die Historikerin Andrea Homeyer hat in ihrem 2001 erschienenen Buch „60 Jahre Stadt Mühlheim am Main“ Folgendes ausgeführt: „Die Tätigkeit des Bürgerausschusses wirkt beruhigend auf die Bevölkerung. Die Auflösung der Ordnung kann so verhindert werden“.
Nach dem Bernhard und Spahn die Sitzung verlassen hatten ergriff Anton Dey das Wort:
Der Bürgermeister gab in interessanten Ausführungen ein umfassendes Bild über die derzeitigen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die sich in Verwaltung und Wirtschaft ergeben. Es sei dringendstes Gebot der Stunde, alle willigen Kräfte zu mobilisieren, um den völligen Ruin abzudrängen. Die Mitglieder des Bürgerausschusses versprachen ihre ganze Kraft einzusetzen, um im Interesse der Gemeinde und zum Wohle der Bevölkerung mitzuarbeiten.
Nachdem von der besonderen Stellung eines vorsitzenden des Bürgerausschussses Abstand genommen wurde, bildete man folgende Arbeits-Ausschüsse:
Als Schriftführer wurde das Mitglied Wilh. Seipel aus Dietesheim bestellt.
Beigeordneter Schmitt, der mit besonderer Aufgabe für den Stadtteil Dietesheim betraut ist, gab einen ausführlichen Bericht über die geleisteten Arbeiten in dem durch Fliegerschaden besonders hart getroffenen Stadtteil Dietesheim. Der Bericht wurde mit Interesse entgegengenommen und die Arbeiten allerseits anerkannt.
Stadtrechner Schäfer gab einen umfassenden Einblick in die derzeitige finanzielle und steuerpolitische Lage.
Der Bürgermeister dankte für das bisher Geleistete und rief nochmal zur intensivsten Mitarbeit auf.
Darauf wurde die Sitzung geschlossen.
Mühlheim, den 30. Mai 1945
der komm. Bürgermeister:
Dey
(Auszug aus dem Protokoll der 1. Sitzung des Bürgerausschusses der Stadt Mühlheim am Main am 30.05.1945, 19.30 Uhr)
In der Folgezeit, der Ausschuss tagte bis zum 10. Dezember 1945, wurden immer wieder die drängenden Probleme der Bürgerschaft erörtert und aus den regelmäßigen Berichten des immer noch kommissarischen Bürgermeisters lässt sich ablesen, wie man mit Entschlossenheit und Elan an die Wiederherstellung eines funktionierenden städtischen Gemeinwesens herangegangen ist. So wird über die Widereröffnung der Grundschulen, über den Ausbau der selbständigen Gemeindepolizei und über die neu besetzten Verwaltungsstellen im Rathaus berichtet.
Hören wir uns an, was in der 2. Sitzung des Bürgerausschusses am 20. Juli 1945 zur Sprache kam:
Über den Stand der Arbeiten der Fliegerschäden-beseitigung und Wohnhausreparaturen gaben die Spezialisten Knecht und Peter H. Schmidt sehr interessanten Bericht. Durch klugen Einsatz und opferbereite Leitung konnten im Stadtteil Dietesheim bereits alle Strassen gesäubert und ein Teil der Schäden gemildert werden; nun sind schon die Handwerker daran, gröbere Häuserschäden zu beheben. Man beklagte sich über den Mangel an Einsatzfreudigkeit bei den Arbeiten in der „Rote Warte“-Siedlung, doch wird auch hier infolge zäher Ausdauer der Erfolg nicht ausbleiben..
(Auszug aus dem Protokoll der 2. Sitzung des Bürgerausschusses der Stadt Mühlheim am Main am 20.07.1945)
Ein Beispiel der bis heute noch andauernden Aufarbeitung des Nationalsozialismus findet sich in der Niederschrift vom 10. Dezember 1945 unter dem Tagesordnungspunkt „Aufhebung von Hausarrest des Christian D. und Karl K. folgender Eintrag. Ich zitiere:
Auf Anweisung des Landrats soll der Ausschuß über die Aufhebung der aus der Internierung entlassenen Christian D. und Karl K. gehört werden. Der Ausschuß stellt sich nach kurzer Aussprache einmütig auf den Standpunkt, daß der Hausarrest für die Dauer kein geeignetes Strafmittel ist. Die beiden politisch belasteten Personen sollen entweder erneut in Haft genommen oder zu gemeinnütziger Arbeit herangezogen werden. Inzwischen ist die Antwort auf die Stellungnahme des Bürgerausschusses durch den Landrat dahingehend erfolgt, daß trotz des Hausarrestes die Inanspruchnahme der Hausarrestanten für Aufräumungsarbeiten erfolgen kann.
(Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Bürgerausschusses der Stadt Mühlheim am Main am 10.12.1945)
In diesem Zusammenhang gestatte ich mir – sozusagen im Vorgriff – einen in der, fast ein Jahr später am 2. Oktober 1946 stattgefundenen Gemeindevertretersitzung vom Beigeordneten Roth eingebrachten Antrag zur Kenntnis zu geben. Es handelt sich hierbei um ein nicht unbedeutendes Zeitdokument:
Zwecks Heranziehung der Mitglieder der NSDAP und deren Gliederungen für Gemeinschaftsarbeiten (Herstellung von Wohnungen für Flüchtlinge und Arbeitsleistungen hieran) habe ich folgende Vorschläge zu unterbreiten und bitte um Weiterleitung:
Alle diejenigen, welche sich nicht beteiligen, können auf Beschleunigung ihres Verfahrens nicht rechnen und weil sie bei der Herstellung von Wohnungen für Flüchtlinge abseits stehen, müssen sie mit zusätzlicher Belegung ihrer Wohnungen rechnen.
(Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Bürgerausschusses der Stadt Mühlheim am Main am 02.10.1946)
Dem Antrag wurde zugestimmt und – wie es wörtlich heißt – an den politischen Ausschuss überwiesen. Bei diesem Ausschuss dürfte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine der 100 in Hessen eingerichteten Spruchkammern zur Entnazifizierung gehandelt haben.
Bevor wir jetzt wieder einen Zeitschritt zurückgehen, zum Anfang des Jahres 1946, will ich noch auf die Anfänge in Lämmerspiel eingehen.
Dort hatte der kommissarische Bürgermeister Beheim einen Bürgerrat ins Leben gerufen, der in folgenden Ausschüssen seine Arbeit aufnahm: Bekleidungs-, Ernährungs-, Übernachtungs- und Wohlfahrtausschuss. Auch dort ging es Versorgungsprobleme und die Wiederherstellung der Straßen.
Nur gegen Skepsis und Widerstand innerhalb der amerikanischen Verwaltung und auch gegen organisatorisches Bedenken der noch im Aufbau befindlichen deutschen Parteien wurde für Januar 1946 Kommunalwahlen terminiert.
In der Militärverwaltung herrschte Zweifel, ob die Deutschen nach 12 Jahren Hitlerdiktatur für ein demokratisches System überhaupt schon bereit sind. Von daher wird auch verständlich, warum die Legislaturperiode auf nur zwei Jahre festgesetzt und eine 15%-Klausel überwunden werden musste. Die Kommunalwahl hatte wohl den Status eines Experiments.
Nach 12 Jahren nationalsozialistischer Diktatur fanden somit in Hessen Ende Januar 1946 erstmals wieder freie Wahlen statt. Von den so gewählten Gemeindevertretungen wurden die von der Besatzungsmacht eingesetzten provisorischen Bürgermeister entweder bestätigt oder abgewählt. Die als Versuch zugelassene Wahl übertraf die Erwartungen der Amerikaner; die Wahlbeteiligung betrug mehr als 80 Prozent.
Nunmehr forcierten die US-Behörden den Aufbau der Demokratie. Am 28. April gleichen Jahres wurde für die Kreistage, am 26. Mai in den kreisfreien Städten gewählt.
Diese „Demokratisierung“ von unten erwies sich somit als überraschend erfolgreich.
Begeben wir uns nun nach Mühlheim und auch in das damals noch selbständige Lämmerspiel.
Am 27. Januar 1946 gingen über 85 Prozent des Wahlberechtigten in Mühlheim zur Wahl. Eine bislang nicht mehr erreichte Höchstzahl. Die SPD erhielt 51,21; die CDU 39,32 und die KPD 9,47 Prozent.
In Lämmerspiel betrug die Wahlbeteiligung sogar über 95 Prozent. Die CDU erhielt 66,52; die SPD 28,81 und die KPD 4,66 Prozent.
Der neu gewählte Gemeinderat hatte in Mühlheim 18 Sitze und trat am 22. Februar 1946 erstmals zusammen. In Lämmerspiel waren es sieben Sitze und dort tagte man erstmals am 19. Februar 1946, also drei Tage früher als in Mühlheim.
Am 22. März 1946 wurde der von den Amerikanern kommissarisch eingesetzte Alys Beheim zum Bürgermeister gewählt.
Zurück zur ersten Sitzung in Mühlheim. Nach Eröffnung durch Bürgermeister Dey wurden die gewählten Gemeindevertreter per Handschlag verpflichtet. Sodann wurden folgende Arbeitsausschüsse gebildet: 1) Allgemeine Verwaltung, 2) Wohnungswesen, 3) Wohlfahrtspflege und, Fürsorge und Flüchtlingswesen, Arbeiterwohlfahrt und Caritas, 4) Bauwesen und Fliegerschäden, 5) Städtische Betriebe, 6) Ausschuss für Schule und Volksbildung.
Neben der Einsetzung eines Wahlausschusses für die Bürgermeister- und Beigeordnetenwahl findet sich ein Tagesordnungspunkt auf den man mit Recht noch heute und gerade heute sehr stolz sein kann, da in nicht wenigen Städten – wenn überhaupt – eine solche Entscheidung erst viele Jahre beziehungsweise Jahrzehnte später getroffen wurde.
Tagesordnungspunkt 4 lautete: „Aberkennung der Ehrenbürgerschaft für Adolf Hitler“. Im Jahre 1934 wurde durch die damalige Gemeindevertretung der Ludwigsplatz in Adolf-Hitler-Platz benannt. Die Aberkennung erfolgte ohne Gegenstimme und Enthaltung; der Ludwigsplatz erhielt wieder seinen alten Namen.
Ein weiterer bemerkenswerter Tagesordnungspunkt findet sich unter Nummer 9.: „Antrag der jüdischen Gemeinde auf unentgeltliche Zuweisung von Brennholz an hier wohnende jüdische Religionsangehörige.“ Dem Antrag wurde einvernehmlich zugestimmt und je ein Zentner Holz auf Kosten der „Sozialen Hilfen“ zugewiesen.
Ein weiterer Tagesordnungspunkt betraf den Antrag eines Bürgers bezüglich seiner Entnazifizierung, der auf die Widersprüchlichkeiten der damaligen Zeit ein gewisses Licht wirft.
Ich zitiere: „Das Schreiben kann leider nicht behandelt werden. Die Gemeindevertretung ist mit der Art und Behandlung der Entnazifizierungsfragen nicht zufrieden, da vollkommen unkontrollierbare Kräfte, die unabhängig von der Gemeindevertretung sind, beeinflussen.“
Anscheinend hat sich diese Auffassung zwischenzeitlich geändert. Sie erinnern sich, dass am folgenden 2. Oktober man einen Antrag zur weiteren Entscheidung dem Politischen Ausschuss überwies, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um das Entnazifizierungsgremium gehandelt haben dürfte.
In der am 19. März 1946 stadtfindenden Sitzung wurde Anton Dey, nachdem keine weiteren Bewerbungen vorlagen, einstimmig durch Handaufheben zum Bürgermeister gewählt.
In der Niederschrift der am 3. September 1947 stattgefundenen Sitzung ist eine Entscheidung wiedergegeben, die in der darauffolgenden Sitzung wieder aufgehoben wurde. Ich zitiere:
„Die Ludwigsstraße wird in August-Bebel-Straße und der Ludwigsplatz in Walter-Rathenau-Platz umbenannt. Die Beschlüsse erfolgten mit wechselnden Mehrheiten.“
Leider ist den mir zur Verfügung stehenden Quellen nicht zu entnehmen, warum bereits nach kürzester Zeit die Beschlüsse wieder aufgehoben wurden.
Vielleicht gab es in der Bürgerschaft lauten Widerspruch wie dies bei der 1992 beabsichtigten Umbenennung der Ulmen- in Willy-Brandt-Straße der Fall war. Auch damals wurde der entsprechende Beschluss der Stadtverordnetenversammlung aufgrund der lautstarken Proteste wieder zurückgenommen. Stattdessen wurde, auf Vorschlag der Ehrenbürgerin Irmgard Sondergeld, das Bürgerhaus in Willy-Brandt-Halle umbenannt, was eine kluge Entscheidung war und ist.
Lassen sie mich bitte eine besondere Persönlichkeit würdigen, die für den Wiederaufbau und für die Demokratisierung unserer Stadt eine überragende Leistung erbracht hat. Anton Dey hat Mühlheim mit Weitsicht, Engagement und auch mit Herzblut durch die schwierigen Zeiten des Wiederaufbaus geleitet. Und es darf nicht unerwähnt bleiben, dass er den Hessischen Gemeindetag, dem späteren Städte- und Gemeindebund, mitgegründet hat und dafür sorgte, dass dieser seinen Sitz im Mühlheim nahm. Folgerichtig war er lange Jahre, neben seiner Tätigkeit als Landtagsabgeordneter, auch dessen Präsident.
Ich komme nun zum Schluss: Professor Posek hat es deutlich gemacht: Die Kommunale Selbstverwaltung, auch lokale Demokratie genannt, ist die Basis unseres freiheitlichen demokratischen Staates.
Demokratie muss gelebt werden und das gilt für alle Tage und nicht nur für Festveranstaltungen. Und ohne öffentliche Streit geht das nicht; Streit gehört zur Demokratie. Dort, wo nicht gestritten wird dürften Interesse und Engagement für das öffentliche Wohlergehen verkümmert sein oder die Meinungsfreiheit ist einer Diktatur zum Opfer gefallen.
Für eine lebendige und erfolgreiche Demokratie ist es existenziell wichtig, wie man streitet; ob sich vor allem auch die kommunalpolitischen Akteure einer Streitkultur verpflichtet fühlen.
Ich erlaube mir, mit einem Appell an Sie alle zu enden. Bedenken Sie bitte stets die im Hessischen Landtag 1952 zur Novellierung der Gemeindeordnung erfolgte Begründung. Ich zitiere:
Nach kurzer Begrüssung des Bürgermeisters Dey an die vollzählig erschienenen Mitglieder gab das Mitglied Jak. Gg. Bernhard eine Erklärung ab. Die darin enthaltene Frage wurde nach der Auffassung desselben vom Bürgermeisterunbefriedigend beantwortet und verließ Bernhard unter Protest gemeinsam mit Peter Spahn u. Anton Spielmann den Sitzungssaal. Da es sich um eine nichtgemeindliche Frage handelte, die auch an sich völlig unwesentlich schien, ist das grundlose Verlassen der Sitzung mit dem Ausscheiden aus dem Bürgerausschuss gleichzustellen.
(Auszug aus dem Protokoll der 1. Sitzung des Bürgerausschusses der Stadt Mühlheim am Main am 30.05.1945, 19.30 Uhr)
Frau StVVin, ich habe hier eine gerahmte Kopie dieser Begründung, die ich Ihnen gerne mit der Hoffnung überreichen möchte, dass sie einen gebührenden Platz in der Mühlheimer Stadtverordnetenversammlung finden möge.
Sehr geehrte Damen und Herrn, aufgrund der mir nur begrenzt zur Verfügung gestanden Zeit, konnte ich Ihnen auf unserer Zeitreise nur wenige Eindrücke der in 1945 und 1947 stattgefundenen Demokratisierung wiedergeben. Ich hoffe, dass ich Ihnen dennoch ein Stück Zeitgeist habe vermitteln können.